Zum Glück muss man mich zwingen – Arbeiten in der Hörakustik
Dieser Text ist keine Anleitung einen Jobwechsel zu vollziehen. Es ist auch keine Anregung es zu tun und nicht das Gegenteil. Es ist nur meine persönliche Erfahrung im Job-Jungel der Hörakustik.
Zu Beginn
Ich war zufriedene Hörgeräteakustik-Gesellin in einem kleinen Familienunternehmen mit nicht mehr als 2 Filialen. Ich hatte einen verständnisvollen Chef, teamfähige Kollegen, tolle Kunden, einen modern eingerichteten Arbeitsplatz, die besten Arbeitszeiten und ein überdurchschnittliches Gehalt. Ich war frei in meinen Anpassungen mit meinen Lieblings-Hörgeräteherstellern Starkey und Bernafon. Selbst privat war ich glücklich und hatte nie an eine Veränderung gedacht. Ich hätte ewig einfach so weitermachen können.
Doch irgendwann war da dieses seltsame Gefühl
Ich wollte ausbrechen aus der Routine, dem Alltag, dem Immergleichen. Folglich fing ich meine Meisterschule an der BAK in Landau an. Endlich wieder die Schulbank drücken, wie aufregend. Nach einiger Zeit merkte ich, es hatte sich nichts verändert. „Same procedure as every day!“ Alles beim Alten. Es fühlt sich seltsam an, ohne dass man dieses Gefühl wirklich greifen konnte. Da war es wieder, dieses Fernweh. Ein Fernweh wie es kein kurzweiliger Urlaub stillen konnte. Ich musste raus. Das war es. Heureka! Ich suche offensichtlich nicht die immergrüne Sesshaftigkeit. Mehr das Abenteuer, die aufregenden Städte und neuen Leute. Während alle um mich herum heirateten, Häuser bauten und Kinder zeugten, streckte ich beide Arme von mir als säße ich in einem zu engen Raum und schrie in mich hinein: „Ich bin zu jung für den Sch…!“
Da war es beschlossen
Mal einen eigenen Hörgeräteakustik-Laden leiten, mehr Verantwortung übernehmen, mehr Gehalt verdienen. Vielleicht sogar Erfahrungen in der Audiotherapie oder der Tinnitus-Therapie sammeln. Auch Einblicke in den Bereich der Augenoptik interessierten mich schon länger. Ich würde mich also mal umsehen in der Branchenzeitschrift „Hörakustik“, sobald ich meinen Meister gemacht habe, sobald meine letzte Aufführung des Theaterstücks war, nach Beenden des VHS-Kurses aber auch nicht vor dem nächsten so planungsintensiven Urlaub. Mal. Irgendwann. Wenn ich Zeit habe, na klar. Ich alte Heuchlerin halte mich also selbst hin und vertröste mich mal wieder auf nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr. Die Bequemlichkeit hatte mich zurück! Sicher war schließlich auch, wer so zufrieden ist, konnte sich nur verschlechtern. Danke lieber Schweinehund für diese Ausrede. Wie das Schicksal so spielt habe ich nicht den neuen Job, sondern der neue Job mich gefunden. Zufällig sah ich ein Angebot über Placing-You. Weit weg von zu Hause zu Konditionen von denen ich nur Träumen konnte. Selbst meine Bewerbung war allerdings immernoch nicht eigeninitiativ. Ich habe mich zum Glück überreden lassen, mich doch einfach mal mit einem Personalchef zum Gespräch zu treffen. Schlussendlich hatte ich mich innerhalb von nur wenigen Tagen beworben, zu einem Gespräch getroffen und eine Zusage als Geselle für eine Meisterstelle als Filialleitung bekommen.
Und jetzt
Nun stand ich da mit den Antworten die ich wollte, den Geistern die ich rief und der Gelegenheit die ich suchte. „Und jetzt?“ war meine erste Reaktion. „Wie entscheide ich mich denn jetzt?“ der nächste Gedanke. „So weit weg!“ hörte ich meine Mutter sagen. „Und wenn du die Probezeit nicht überstehst?“ werden sicher die Bedenken meines Vaters sein. „Also fehlst du wieder auf der nächsten Familienfeier?“ stellte ich mir die kritischen Kommentare meines Bruders vor. Doch was waren meine persönlichen Bedenken und wessen Meinung sollte vorrangig zählen bei einer solch wichtigen Entscheidung für mein Leben. Ich notiere also gedanklich auf meiner Pro und Contra Liste. Allzeit bewährt. Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen. Wie einfach könnte es sein. Ich würde 550 km weit wegziehen, eine Wohnung suchen und finden müssen, eine neue Stadt und neue Kollegen kennenlernen. Ich würde als Filialleitung an neuen Aufgaben wachsen und parallel meine Meisterprüfung abhalten.
Angst machte sich breit.
Plötzlich stand er im Raum, dieser eine wichtige Satz, der Wichtigste. Mein Partner sagte völlig unvoreingenommen: „JA! Dann machen wir das!“ und räumte damit alle Bedenken, Verhandlungen, Sorgen und Ängste einfach mit einem Satz beiseite. Ich war sprachlos. Sprachlos wie einfach es doch sein konnte eine Entscheidung zu treffen. Sprachlos, ob der neuen spannenden Möglichkeiten und der bedingungslosen Rückendeckung. „Ja, dann machen wir das!“ wurde der Satz den wir uns nun gegenseitig sagten wenn auch nur annähernd erneute Zweifel kamen.
6 Monate später…
…sitze ich hier, verfasse diesen Artikel und darf nochmal Resumee ziehen. Ich war also Montag bis Mittwoch Filialleitung eines Hörakustik-Fachgeschäftes an der schweizer Grenze, Donnerstag bis Samstag in der Meisterschule, Sonntags habe ich parallel eine Wohnung gesucht, den Umzug erledigt, bin wöchentlich fast 700km Auto gefahren, habe erfolgreich eine Meisterprüfung bei der Handwerkskammer Mannheim abgelegt und habe all die Kleinigkeiten aufgefangen die sonst im Alltag noch anstehen. Nebenher verlief der Start beim neuen Akustiker mehr als holprig. Einen Tag vor Antritt der neuen Stelle erhielt ich einen Anruf. Mein zukünftiges Fachgeschäft wird integriert. Verkauft! An einen der drei Großen. Dabei hatte ich doch ausdrücklich beim Bewerbungsgespräch darauf hingewiesen, dass ich genau dies niemals wollen würde. Ich muss zugeben, ich war enttäuscht, ich war entsetzt, ich war der sofortigen Kündigung nah, ich wollte aufgeben! Doch all das gehörte nunmal zu dem Abenteuer „neuer Job“. Abschließend ist sicher nicht alles besser geworden, aber spannender. Neue Herausforderungen motivieren mich. Die neue Umgebung weckt mein Interesse. Und ich weiß jetzt: jedes Abenteuer ist seine Anstrengung wert. Mein Fernweh trägt Schuld an der aufreibenden Misere des Umbruchs aber eben auch an neu gewonnen Eindrücken, Hobbys, Stammrestaurants, Bekanntschaften und Möglichkeiten, von denen es noch so viele gibt. Wie schrecklich hätte ich es bereut eines Tages zurückzublicken und sagen zu müssen: „Schade, dass ich damals nicht mutig genug gewesen bin!“